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Zwanghaft im Flow

Dieser Artikel wurde am 07.03.2021 veröffentlicht in der Süddeutschen Zeitung, mit dem Titel "Zwanghaft im Flow".


Th7. März 2021, 18:45 Uhr

SZ-Serie: Bühne? Frei!:


Zwanghaft im Flow

Kultur-Lockdown, Tag 127: Die Allround-Künstlerin bleibt irre kreativ

Gastbeitrag von Ira Blazejewska

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Ich weiß, dass ich hier über meine Lockdown-Erfahrungen als Künstlerin schreiben darf. Ich merke: ich habe keine Lust. Keine Lust aufzuzählen: was ich vorher Geiles gemacht habe; was ich dann nicht mehr machen durfte; schließlich, welche neuen Ufer, Häfen, Länder, Strategien, Ideen, Pläne, Neustarts, frische Winde, Achtsamkeiz mir daraufhin fatamorganaesk erschienen.

Ich schmeiße Farbe auf die Leinwand und denke: Nö, ich will nicht zur Herde der abertausend Phönixe gehören, die morgen angestrengt aus der Asche auferstehen. Sorry, ich muss mal kurz kotzen gehen. Das kommt nicht von meinem gesteigerten Weinkonsum. Ich trinke gutes Zeug. Egal wie. Schon immer. An manchen Dingen spare ich nicht.


Nach der täglichen Körperertüchtigung liege ich auf dem Boden im Atelier. Das fällt unter die Rubrik lethargische Zwanghaftigkeit. Beides. Die Bewegung und das Liegen. Assoziiere: Relevanz, Eleganz (Hoppla), Ignoranz, Veitstanz, Schwanz. Ok, genug. Ich ächze. Mache die Wende. Blicke jetzt auf die Stauraum- Bühne, die aus gelben Bauplatten gebaut ist. Das Licht fällt drauf. Sieht immer wie Sonne aus. Tröstlich. Ich will hier nie wieder raus.

Etwas glitzert im Gegenlicht. Klarsichtfolie. Von den Ziggies. Oder der Schokolade. Körper schnellt hoch, fahriger Pfeil, fängt Folie, sucht Ziel, das Klavier, in den nächsten Stunden Tasten-Töne-Diarrhö. Bisschen Knabbern zwischendurch. Rubrik Flow plus Zwanghaftigkeit.


Ich zeichne in mein Skizzenbuch. Meistens Mischwesen aus Mensch und Tier. Oder Alien. Die treffe ich in meinen Träumen. Ich träume jede Nacht intensiv. Mit dem Stoff könnte ich 10 Staffeln American Horror Story bedienen. Der mit dem zweiten Gebiss, das mir wuchs, wie bei einem Hai, war unerwartet aufbauend. Texte schreibe ich auch, und die Musik dazu. Manchmal eine Geschichte. Sitze am Klavier. Singe meine Songs. Die Zeit reicht nie. Dabei fühle ich mich inzwischen wie ein*e Astronaut*in so einem alten Science-Fictionfilm. Die Leine, die ihn*sie mit dem Mutterschiff verbindet, reißt und er*sie schwebt ins endlose Unbekannte. Die Anderswelt ist schon die meine. Aber ich kann sie noch nicht beschreiben.


Als kleines Mädchen stand ich mit meiner Patentante in Italien in einer großen, dunklen Basilika. Sie zeigte mir die Arbeit der Steinmetze, die Unterschiede in den Ausführungen, erklärte, dass es viele gewesen sein müssen, dass wir ihre Namen nicht kennen. Dass es große Künstler waren. Ich betrachtete die gute, feine Arbeit und es wurde ganz still in meinem Herz.


So, abschließend schlage ich vor, dass wir Künstler*innen mal den Korken aus dem Arsch nehmen und uns politisch organisieren. Und für das Gemüt und weil sich heute, da ich dies schreibe, Hanau jährt, noch etwas aus dem Liederkränzchen, zum Einschlafen und nicht zu Laute zu singen:


Die braune Raupe Nimmersatt


Die braune Raupe Nimmersatt,

die walzt die Republik nun platt.

Die Wirtschaft erhält ihren Cut,

die Kanzlerin folgt zicke-zack.

Die Presse macht nur Hicke -Hack

und kratzt an Tünche, braunem Lack.

Die Sozis haben alle satt

und keiner stoppt die braune Raupe Nimmersatt.


Hast du gehört von den Leichensäcken,

in denen Bürgermeister verrecken?

Sie hortet sie lang schon in ihren Verstecken,

die Raupe, so braun das Getier.

Sie bohrt sich in die Köpfe wie Zecken

Und lässt sich von Ökonomen decken.

Die braune Raupe scheißt blau Exkremente,

wächst in den Winkeln jeder miefigen Schenke

und in den Lobbys der besten Hotels.

Nationalism sells.


Die braune Raupe Nimmersatt

bestimmt im Landtag jetzt den Takt.

So langsam macht der Staat sich nackt,

die müden Bürger werden schlapp.

Der letzte Widerstand versackt.

Der Friedensengel lächelt matt.

Er weiß, er wird bald abgewrackt.

Und keiner stoppt die braune Raupe Nimmersatt.


Hey, mein Freund, Du hast nicht geträumt,

den Anschlusszug nach Lala-Land versäumt.

Nun musst Du solvent in der Hölle schwitzen

mit abgebräuntem Gemächt.

Dort stinkt‘s postfordianisch aus schleimigen Ritzen,

es labt sich die Raupe an eigenen Witzen,

scheißt selig und blau ihre Exkremente.

Legt ihre Eier in Samenbänke,

schmust mit Beamten und Angel Hells.

Nationalism sells.


Du braune Raupe Nimmersatt,

du braune Raupe Nimmersatt,

dir wird der Kopf jetzt abgehackt,

und auch dein Schwanz wird eingesackt,

sonst sind wir alle abgefuckt.

Schwanz, Kopf, Leber, hack!

Schlagt die Nazis, zicke-zack!

Schwanz, Kopf, Leber, hack!

Schlagt die Nazis, zicke-zack!

Schwanz, Kopf, Leber, hack!

Schlagt die Nazis, zicke-zacke,

zicke-zacke, zicke-zacke,

zicke-zacke, zicke-zacke,

zicke-zacke, zack.

Ira Blazejewska


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Die Dystopianerin


Ich bin jetzt Dystopianer

Und töte denVeganer

In mir mit Käs und Wurst.

Das macht mir starken Durst.

Ich meide den Kamillentee,

denn der tut meiner Leber weh.

So auch die Brause und der Saft,

der nur Probleme schafft.

Ich liebe schwarzen/grauen Schnee,

auf Rosen von Manet.

Ich suhl mich frei und froh

auf meinem alten/roten Kanapee

bevor ich mir ne Kippe dreh.

Ich schrei nach Gin,

ich schrei nach Wein,

das brauch ich,

um bei mir zu sein.

Am Ende wird doch alles fein,

mein Bauch und auch mein Po sind fett,

mein Geist ist herrlich rein.


Ich bin bereit:

Ich segle nach Dystopia.

Ich seh:

Es sind schon alle da.


Dystopia, du liebe,

schwarze Insel tief im Meer.

Ich komme von ganz nahe her,

der Weg fiel mir so gar nicht schwer.

Mein Aug ist heiß, mein Kopf ist leer.

Ich bring in meinem Koffer

viel Schnaps und einen Beutel Teer.

Die letzte Reise ist schon

lange her und nie vorbei,

ich merk: ich war schon immer hier,

doch das ist einerlei.


Jetzt bin ich Insulaner,

und brauch den Kantianer

in mir so wenig wie zuvor.

Hier gibt’s nur nette Tiere,

die schmusen und die fressen sich.

Die gehen auf allen vieren,

es braucht sich keiner zu genieren.

Ich wälze mich dazu,

es tut so gut und funkt im Nu.

Sie lesen gerne Böll

Und hassen Grass-Gedichte,

die ich mit Wollust mitvernichte.

Nicht mal zum Popowischen

taugt uns der. Wir haben keine,

und doch diese Ehr.


Dystopia, du liebe,

öde Insel tief im Meer.

Ich komme von ganz nahe her,

der Weg fiel mir so gar nicht schwer.

Mein Aug ist heiß, mein Kopf ist leer.

Ich bring in meinem Koffer

viel Schnaps und einen Beutel Teer.

Die letzte Reise ist schon

lange her und nie vorbei,

ich merk: ich war schon immer hier,

doch das ist einerlei.


Auf dem Wege nach Dystopia

fiel das Denken mir nicht schwer

und ich wollte immer mehr.

Mehr vom Wein und mehr vom Gin,

um zu werden, was ich bin:

froh als Dystopianerin.


Copyright: Ira Blazejewska

April 2012



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