In den 1880er Jahren öffnete in Paris, mit Le Chat Noir, das erste cabaret artistique seine Pforten. Es war politisch und aufregend. Man pflegte die Dekadenzdichtung und trank Absinth. Treffpunkt vieler Chanson-Sänger*innen, Künstler*innen, Schriftsteller*innen und Schauspieler*innen wurde es zum Inbegriff der Pariser Bohème. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstanden dann die ersten Kabarettbühnen in Deutschland und Österreich. Im Kaiserreich galt ein strenges Verbot für politische Kritik. Die Zensur wurde erst mit Ende des Ersten Weltkriegs aufgehoben. Ab da blühte das deutsche Kabarett und bot Künstler*innen wie Claire Waldoff und Karl Valentin eine Bühne. Kurt Tucholsky und Erich Kästner schrieben für das Kabarett. In München tobten die Scharfrichter und die einzige Frau im Bunde, die legendäre Marya Delvard zeigte den Müncher*innen, was Chanson ist. In der Reichshauptstadt trat Anita Berber in der „Weißen Maus“ quasi nackt auf und nannte ihre Show „Morphium“. Frühstückte angeblich in Äther und Chloroform getauchte Rosenblätter. Das waren die Anfänge und besser wurde es nicht mehr. Mehr will hier nicht über die Geschichte des Chansons und des Cabarets schreiben, das könnt ihr nachlesen. Und euch verlieren in Zeiten und Biographien, die wir verklären. Die verdammt hart waren. Und verdammt lebendig.
Die Faszination an der Entgrenzung, am Rausch und an den Zwischenwelten überfiel mich persönlich in jüngsten Jahren. Etwas später lernte ich, dass es echte Orte gibt, die diese Zustände beheimaten. Dass es Epochen gab, in denen die Dekadenz auf den Köpfen der Spießer tanzte. Ich war angefixt. Und versuche seitdem, diesen Spirit wider aller neoliberalen Verwerfungen zu leben. Tatsächlich sang ich schon als kleines Mädchen die Chansons, die ich zu Hause im elterlichen Plattenschrank fand, nach. Sie steckten in Covers, auf denen man geheimnisvoll und melancholisch aussehende Menschen sah. Später begleitete ich mich dann auf der Gitarre und erweiterte mein Repertoire. Machte aber aus allem, was ich sang, ein Chanson. So ein Chanson ist wie ein kleines Theaterstück. Und ich bin nie wieder davon losgekommen. Meine erste Liebe überlebte ein Gesangsstudium, Engagements an der Oper – meine erste richtige Rolle hatte ich in einem Stück mit dem richtungsweisenden Titel „Cabaret Schoenberg an der Oper von Bordeaux -, Ausflüge in den Jazz und Ensuite-Engagements im Musical. Klezmer passte bestens zum Chanson. Die Klezmersongs mit ihrer unnachahmlichen Poesie, ihrer Melancholie und ihrem Witz, waren mir eine Sprache, die tief aus meiner Seele zu kommen schien. Nach vielen Erfahrungen kehrte ich zum Chanson zurück. Es sitzt in meinen Zellen. Buchstäblich. Großmütterlicherseits stamme ich von einer belgisch-deutschen Sippe von Barden und Minnesänger*innen, den Hamsvaar, ab. Jetzt schreibe ich selbst Chansons. Contemporary Chansons. Ich wende mich nicht zurück, verfolge keine heimelige Retro-Nostalgie, sondern schreibe das Chanson unserer Zeit, schlage den Bogen und interpretiere den Zusammenhang zwischen Tradition und Moderne neu im „Ersten elektro-akustischen Chanson-Cabaret der 2020er Jahre“.
Und nun zum Sich-Vergnügen und Abtauchen in eine andere, vergangene Welt, die nach wie vor inspirierend ist, hier noch ein kurzer Textausschnitt:
“Berlin verwandelte sich in das Babel der Welt. Bars, Rummelplätze und Schnapsbuden schossen auf wie die Pilze. Was wir in Österreich gesehen, erwies sich nur als mildes und schüchternes Vorspiel dieses Hexensabbats, denn die Deutschen brachten ihre ganze Vehemenz und Systematik in die Perversion. Den Kurfürstendamm entlang promenierten geschminkte Jungen mit künstlichen Taillen und nicht nur Professionelle; jeder Gymnasiast wollte sich etwas verdienen, und in den verdunkelten Bars sah man Staatssekretäre und hohe Finanzleute ohne Scham betrunkene Matrosen zärtlich hofieren. Selbst das Rom des Sueton hat keine solche Orgien gekannt wie die Berliner Transvestitenbälle, wo Hunderte von Männern in Frauenkleidern und Frauen in Männerkleidung unter den wohlwollenden Blicken der Polizei tanzten. Eine Art Irrsinn ergriff im Sturz aller Werte gerade die bürgerlichen, in ihrer Ordnung bisher unerschütterlichen Kreise. Die jungen Mädchen rühmten sich stolz, pervers zu sein; mit sechzehn Jahren noch der Jungfräulichkeit verdächtig zu sein, hätte damals in jeder Berliner Schule als Schmach gegolten, jede wollte ihre Abenteuer berichten können und je exotischer, desto besser”. Stefan Zweig, Die Welt von gestern. Erinnerungen eines Europäers, Fischer, Frankfurt am Main 1970, p. 356.
photo by Alexander Winterstein
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